Das Internet läutet eine neue Epoche ein, in dem alle Probleme der Menschheit mit digitalen Mitteln gelöst werden. Diesen oder einen ähnlichen Eindruck gewinnt man manchmal, wenn man den Verlautbarungen führender IT-Firmen zuhört. Auf wundersame Weise soll eine Mixtur aus Cloud, Mobile, Sozialen medien und Big Data eine ganz neue digitale Welt schaffen, die die großen Menschheitsprobleme der Jetztzeit wie Umwelt, Arbeitslosigkeit oder die Kluft zwischen Arm und Reich auf wundersame Weise irgendwie löst oder jedenfalls gewaltig zu ihrer Lösung beiträgt.
Dass die medaille auch eine ganz andere Seite hat, damit beschäftigt sich in einem aktuellen Buch der ehemalige Silicon-Valley-Gründer Andrew Keen.
Keens Diagnose ist klar und unmissverständlich: Das Internet, wie es heute ist, und die wenigen Firmen, die es dominieren (Google, Facebook, Amazon, Uber…) dienen mitnichten der Gesellschaft und ihrer Weiterentwicklung. Sie verteilen Reichtum von unten nach oben um, hebeln jedwede soziale Ausgleichsmechanismen in Gesellschaften aus, stürzen ganze Berufsstände – zunehmend nicht nur Handlanger wie etwa „Angie die Sätzerin“, sondern auch alles, was sich unterhalb der Ebene von Entwicklern, Erfindern und Beratern befindet – in die Arbeitslosigkeit, bereichern sich an kostenlos an den Daten ihrer Nutzer und lassen sich anschließend die aus den kostenlos und dummerweise auch noch freiwillig herausgerückten Datenschätze anschließend von den Ausgeplünderten auch noch teuer bezahlen – zum Beispiel in Form höherer Versicherungstarife für gesundheitlich Anfällige. Die mehr oder minder psychopathisch agierenden Manager der Internet-Giganten sind laut Keen mitnichten Humanisten, sondern sehen den Mitmenschen (ausgenommen die eigenen Entwickler) letztlich als Sand im Getriebe, den man sich am besten vom Leib hält und, falls noch nicht ersetzbar, zu Minimalkonditionen beschäftigt wie Mr. Bezos die Mitarbeiter seiner Auslieferungslager – die sollen ja übrigens bald auf Roboter als Personal umgestellt werden, weil die weder krank werden noch streiken. Disruption heißt das Gebot der Stunde, um jeden Preis und mit ungewissem, für viele möglicherweise existenzbedrohendem Ausgang. Nur eine Gruppe steht derzeit als Gewinner fest: die großen Internet-Unternehmen.
Keens Rezept zur Veränderung der Zustände ist genau so eindeutig: Er setzt nicht, wie etwa Glenn Greenwald, auf Privataktivitäten wie das Verschlüsseln von E-Mails. Vielmehr sei Regulierung erforderlich, schnellstens und durchgreifend. Dafür, dass solche Schritte in den USA mitnichten außergewöhnlich sind, weist Keen ebenfalls hin – schließlich wurde auch der übermächtige IT-Gigant AT&T zerschlagen.
Wer allerdings das undurchdringliche Beziehungs- und Beeinflussungsgeflecht zwischen Nachrichtendiensten, Regierungen und der IT-Branche, das sich in den USA mittlerweile entwickelt hat, durchschlagen soll, sagt Keen nicht. Dabei wäre dies die eigentlich interessante Frage – auch hier in Deutschland, wo wohl in den vergangenen Jahren die Regierung klammheimlich mit den oben genannten Akteuren kooperierte, um die Unternehmen des eigenen Landes digital auszuplündern, ein Schelmenstück ganz besonderer Güte.
Das Buch liest sich trotzdem gut und macht klar, dass es Zeit wird, den Cyberspace nicht mehr als Spielwiese für allerlei Menschheitsretter zu betrachten, sondern ernst zu nehmen. Auch und gerade in seinen negativen, bedrohlichen Auswirkungen.

Bibliographie: Andrew Keen: Das digitale Debakel. Warum das Internet gescheitert ist – und wie wir es retten können. DVA-Verlag, München, 2014. Gebunden, 318 Seiten. ISBN 978-3-421-04647-5, 19,99 Euro.

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