Ein neues Buch, das im Hanser-Verlag erschienen und von Hans-Jörg Bullinger, Präsident der Fraunhofergesellschaft, und der Physikerin und Wissenschaftsjournalistin Brigitte Röthlein gemeinsam herausgegeben wurde, beschäftigt sich mit Lösungen für die „Morgenstadt“, also das Leben in den Städten, die in Zukunft die Mehrheit der Menschen beherbergen werden. Das anspruchsvoll aufgemachte, fest gebundene Buch beschreibt in übersichtlich gegliederten Kapiteln mit Überschriften wie Energie, Wasser, Bauen und Wohnen, Ernährung und Gesundheit, Mobilität, Sicherheit, Arbeitswelt, Ver- und Entsorgung, Kommunikation sowie einem einleitenden und einem zusammenfassenden, abschließenden Abschnitt, welche Ansätze in den einzelnen Fraunhofer-Instituten und auch anderswo entwickelt werden und wo es schon vielversprechende Beispiele gibt. Das Buch liest sich anregend und spannend, zumal es in einer Sprache abgefasst ist, die auch viele Laien ohne naturwissenschaftliche Ausbildung wahrscheinlich verstehen werden.
Auch wenn nirgends behauptet wird, die Umstellung auf die Lebensformen und Technologien der Morgenstadt sei ein Spaziergang, ist das Vertrauen der Autoren in Technologie dabei relativ grenzenlos. Und tatsächlich lesen sich die Vorschläge, die sie für teils sehr knifflige Zukunftsprobleme entwickeln oder darstellen, sehr vielversprechend. Durchaus nicht alles mutet dabei so vertraut an wie die Beschreibung der nun schon beinahe zum Gemeinplatz werdenden „Smart Grids“, also des intelligenten, mit Kommunikationstechnik durchsetzten, Energienetze. Sehr interssant sind beispielsweise die Vorschläge zu den Themen Wasser, Ernährung und Gesundheit, denn sie zielen auf mehr Autonomie von Städten und einzelnen Haushalten – beispielsweise Grauwassergewinnung in hauseigenen Kläranlagen und Regenwasser-Auffangsystemen, Rückgewinnung des dringend als Dünger benötigten Phosphor aus dem Abwasser, Trinkwassergewinnung durch von hochkonzentrierter Salzlösung berieselte Türme und so weiter. Auch die Ideen zum Mobilitätssystem (Multi-Modalität, Verknüpfung der einzelnen Verkehrsträger etc.) lessen sich ganz wunderbar, und man kann nur hoffen, dass es gelingt, sie auch in Städten zu implementieren, die nicht so reich sind wie westeuropäische, asiatische oder US-amerikanische Metropolen.
Eine besonders wichtige Rolle spielt in vielen Bereichen die mehr oder weniger allerorten integrierte Kommunikationstechnologie, die in einem separaten Kapitel auftaucht, aber auch nahezu in jedem einzelnen anderen Kapitel eine wichtige Rolle spielt. Das freilich kann nicht nur positive Assoziationen wecken, denn die Vorstellung einer von Sensoren, Kameras und autonomen Kommunikationssystemen durchsetzten Welt, die munter Daten über alles und jedes funken, ist gewöhnungsbedürftig.
Allerdings hat das Buch an manchen Stellen auch Schwächen, die sich aus seiner Technologiefokussierung ableiten. Beispiel: Ressourceneinsparung. Hier bringt das Buch manche sehr plausiblen Lösungsvorschläge nicht. Beispielsweise wäre die mit Anbstand größte vorstellbare Einsparung wertvoller Ressourcen einfach dadurch realisierbar, dass Geräte, Kleidung etc. für einen längeren Gebrauch (nicht nur für ein leichtes Recycling) gebaut werden. Reparaturfreundliche Geräteentwicklung mit Austauschbarkeit/Reparierbarkeit aller Komponenten, Verlängerung der normalen Garantiedauer auf fünf Jahre (was bedeuten würde, dass alle Bauteile auch fünf Jahre mindestens vorgehalten werden müssen) etc. wären Schritte in diese Richtung, die in ihren Effekten über die bloße Rücknahme und Wiederverwertung schnell verschlissener Güter gerde aus dem IuK-bereich (Smartphones, Tablets, Rechner im Allgemeinen, elektronische Gadgets) weit hinausreichen würden, denn sie sparen auch Transportvorgänge (Liefern, Einsammeln) und Energie (Recycling). Eine Verdopplung der Lebendauer von Gütern würde schlicht bedeuten, dass man im selben Zeitraum nur halb so viele Güter herstellen und auch nur halb so viele Ressourcen verbrauchen würde. Eine solche Ausrichtung würde allerdings Innovationszyklen entschleunigen und das Produktionssystem und würde damit damit die Gewinnspannen der Produzenten und möglicherweise Arbeitsplätze, wobei diese allerdings auch im Reparaturbereich eingerichtet werden könnten. Verständlich, dass Fraunhofer als Auftragsforschungsinstitut hier anscheinend nichts entwickelt oder jedenfalls davon nichts zu lesen ist. Wahrscheinlich aber werden wir am Ende genau solche systemsprengenden Lösungen brauchen, um die Erde für eine auf neun Milliarden angeschwollene Menschheit bewohnbar zu halten.
Bibliographie: Bullinger, Hans Jörg/Röthlein, Brigitte: Morgenstadt. Wie wir morgen leben. Lösungen für das urbane Leben der Zukunft. Hanser-Verlag, München, 286 Seiten, gebunden, mehrfarbige Grafiken, ISBN 978-3-446-43203-1 25,80